Freitag, 27. März 2009
Elfenbein
"Sie hat ja durch die Bewusstlosigkeit seit einiger Zeit keine Nahrung mehr zu sich genommen, aber daran wird sie, wie gesagt, nicht sofort sterben. Da sie nur liegt, verbraucht ihr Körper praktisch nichts. Sie würde nicht gleich daran sterben, dass sie mehrere Tage nichts gegessen hat, aber Flüssigkeit hätte sie nötig. Die Frage ist nun, ob wir ihr noch eine Infusion geben."

Ich bemerke das "hätte". Erwartet er, dass jemand etwas sagt? Das wären dann in diesem Fall als nächste Verwandte wohl meine Schwester oder ich. Ich weiß doch, was er damit sagen will. Er sagt es schon, ich muss doch nichts mehr sagen. Ich weiß das doch alles. Meine Schwester sieht den Arzt nur an und nickt. Ich nehme das Glas vom Tisch und trinke. Es löst den Knoten in meiner Kehle ein bisschen. Niemand hat daran gedacht, das Licht anzumachen. Wahrscheinlich muss ich noch nichts sagen.

Der Arzt überlegt kurz, wie er fortfahren wird. Er spricht langsam und sieht jeden von uns abwechselnd von Zeit zu Zeit an. Ich sehe ihm hin und wieder direkt in die Augen, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich würde seinem Blick ausweichen. Ich frage mich, warum ich das eigentlich tue, aber es fällt mir nicht ein. Ob es ihm seltsam vorkommt, wieviele Menschen hier sind? Engster Familienkreis, dürfte man erwarten. Aber ihre Freundinnen sind hier. Und wenn die einen gehen, kommen die anderen. Jetzt sind es meine Schwester und ich, Mamas Bruder, Mamas Ehemann und 3 Freundinnen. Ich bin 19.

Ich bin gleichzeitig mit der Pflegeschwester eingetroffen. Eine vertraute Sache, das kleine Diakonieauto, dessen Marke ich vergessen habe, da ich mir sowieso nie merken kann, wie welches Auto aussieht. Weiß mit blau. Fast jeden Abend in den vergangenen 3 Monaten. Ich greife nach dem Glas auf dem Tisch und trinke.

"Nun steht in ihrem Patiententestament, dass sie keine lebensverlängernden Maßnahmen möchte. Sie hat jetzt Fieber bekommen." Er spricht so ruhig und so leise. Man hört ihren rasselnden Atem im Nebenzimmer. Ich nehme das Glas wieder vom Tisch und nehme noch einen Schluck.

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